Über die Zustellung von Identität Man schrieb das Jahr 1988 und unsere Geschichte beginnt im Wuppertal. Die Schwebebahn quietschte und schaukelte noch, als ich den Waggon verließ. In meinen Händen die Nachricht über eine Postzustellungsurkunde der Amtsgerichtes Düsseldorf. Vor zwei Jahren hatte ein junger schüchterner Mann das erste theologische Examen beim Landeskirchenamt in Düsseldorf abgelegt. Und nun lief ich die Treppen herunter und schaute selbstkritisch in die Schaufenster. Ein Blick, den ich seit Monaten eingeübt habe. Immer wieder sich selber suchen und kontrollieren. Sitz der Rock, keine Unsicherheiten im Gang und vor allem: war nach außen nichts spürbar? Man hatte es satt, auf der Strasse angepöbelt zu werden. "Ey biste Mann oder Frau?" "Was ist daaas denn? Kommt mal rüber... " Ich konnte sie schon von weiten kommen sehen und es gab zugleich keine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Man musste durchkommen. Und wieder begann der Refrain. Ich war es gründlich leid. Passing - so erfuhr ich später, wurde diese Übung genannt und sie diente der Leib- und Lebensertüchtigung von sog. Personen mit differierender Geschlechtszugehörigkeit. Der Weg zur Post war nicht weit, ein paar Schritte am Operhaus vorbei und schon stand ich in der Schalterhalle. Postzustellungsurkunde des Amtsgerichtes Düsseldorf. Meine neue Identität wurde mir per Post zugestellt - amtlich veranlasst und nur unter Vorlage des Personalausweises abzuholen. Nicht, dass jemand anderes sich heimlich und ohne mein Wissen mein Geschlecht abholen könnte. Oder es irgendwie in den vielen Fächern der Postverteilstelle versehentlich falsch zugestellt würde. Nicht auszudenken. Die Sonne schien und brach sich an den trüben Milchglasscheiben der Hauptpost. Geschäftiges Treiben und wie immer muss man sich hinten anstellen. Das war auch eine der Übungen, die ich jetzt lernen musste. Sich immer hinten anzustellen, sich niemals vorzudrängen. Kollegen und Kolleginnen aus dem Studium waren schon längst in sichere Pfarrämter berufen. Wechselten wohl auch ihre Identität, wurden Mütter, Väter und Pfarrhausverweser, Pfarrstellenverwalter und Wort Gottes Exegeten. Kurzum: Sonntägliche Kanzelkletterer. Ich kann mich aber trotzdem nicht erinnern, von Ihnen jemals gehört zu haben, dass dies alles über Nacht oder am helllichten Tag via Postzustellungsurkunde geschehen sei. Nun gut, dachte ich mir. Immerhin etwas, was ich Ihnen jetzt voraus hatte. Ich legte die Benachrichtigung über die Zustellung einer Urkunde des Amtsgerichtes sowie meinen gültigen Personalausweis der freundlich lächelnden Schalterbeamtin vor. Diese holte das Schriftstück aus dem Schrank und prüfte eingehend die ihr vorliegenden Dokumente. Es gab - wie so oft - Schwierigkeiten. "Bitte" sagte sie mit wohl meindendem Lächeln - "ich brauche nicht den Ausweis Ihres Mannes, Frau Kammann. Haben sie nicht Ihren eigenen Ausweis zur Hand?" Ich schluckte. Und überlegte kurz. War ich etwa verheiratet worden, ohne es mitbekommen? Unmöglich. Davon müsste ich doch wissen. Meine letzte Scheidung war schon lange durch und dort war ich nicht mit einem Mann verheiratet. "Entschuldigung" - sagte ich. "Aber ich bin nicht mehr verheiratet." "Ist mir auch egal, was sie sind!" sagte die Schalterbeamtin und ich ahnte, dass dies ein Schlüsselsatz für mein weiteres Leben werden konnte. "Ich brauche Ihren gültigen Personalausweis, sonst kann ich Ihnen das Schriftstück nicht zustellen." Jetzt ahnte ich das Dilemma. Tatsächlich, auf dem Umschlag und der Benachrichtigung stand: An Frau Karin Kammann. Und drin war der Beschluss des Amtsgerichtes Düsseldorf, dass ich ab sofort Karin Kammann zu sein und zu heißen habe. Nun war in gute juristischer und deutscher Gründlichkeit das Urteil sofort in Kraft gesetzt und entsprechend verpackt worden. D.h. der Rechtsnachweis Karin Kammann zu sein, wurde korrekt auch an Karin Kammann zugestellt. Nur - diese gab es ja noch gar nicht außerhalb dieser Urkunde. Sie sehen, es ist nicht einfach, Geschlecht per Post zuzustellen. Zumal unsere Gesellschaft nicht daran gewohnt ist. Noch schwerer wird es dann, auszuweisen wer man denn selber ist, oder gar geworden ist. Doch dazu später und an anderer Stelle.
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